Kongress in Innsbruck: Leistungsschau der modernen Neurologie

Wien/Innsbruck (pts018/15.03.2016/11:35) – Vom 16. bis 19. März 2016 findet in Innsbruck die 13. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) statt. der Präsident der Jahrestagung, Univ.-Prof. Dr. Werner Poewe (Direktor, Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck): „Hauptthemen sind neurodegenerative Erkrankungen, Multiple Sklerose und andere immunvermittelte neurologische Krankheiten, die Prävention und Therapie des Schlaganfalls, neue Perspektiven der Epileptologie sowie aktuelle Erkenntnisse aus der neurologischen Schlafforschung.“

Parkinson: Pathologische Proteine, Prionen-Mechanismus

Alzheimer-Demenz und Morbus Parkinson sind die häufigsten neurodegenerativen Erkrankungen. Die Parkinson-Krankheit betrifft rund zwei Prozent der Personen über 65 Jahren, in Österreich sind derzeit geschätzt 16.000 Menschen betroffen. Experten gehen davon aus, dass sich bis 2030 die Zahl der Erkrankten zumindest verdoppelt.

„Zuletzt gab es eine Reihe neuer Erkenntnisse zu den Ursachen der Parkinson-Erkrankung. So konnte eine Anreicherung des synaptischen Nervenzellproteins alpha-Synuclein im Gehirn von Parkinson-Pateinten als ein entscheidender Faktor in der Krankheitsentstehung identifiziert werden“, so Prof. Poewe. „Neue Erkenntnisse gibt es auch zur These, dass Parkinson, ähnlich wie die Creutzfeld-Jakob-Krankheit, durch die Ausbreitung infektiöser Proteine im Gehirn verursacht wird.“ Wobei es vermehrt Hinweise für einen Ursprung der Parkinson-Krankheit außerhalb des Gehirns gibt: „Eine Hypothese geht davon aus, dass die pathologischen Veränderungen zunächst in den Nervengeflechten des Darms ihren Ursprung nehmen und dass das veränderte alpha-Synuclein dann über den Vagus-Nerv in das Gehirn transportiert wird.“

Darmbiopsie zur Parkinson-Früherkennung – Neuer Risiko-Score

Diese Einsichten eröffnen auch neue Ansätze für die Früherkennung und Therapie. So wird derzeit erforscht, ob eine sichere Frühdiagnose der Erkrankung durch eine Biopsie der Nerven im Darm, den Speicheldrüsen oder der Haut möglich ist. Einen wichtigen Fortschritt in Bezug auf die Früherkennung stellt auch die Definition von Diagnose-Kriterien für die prodromale Phase der Parkinson-Krankheit dar, also eine klinisch sehr frühe Phase, in der eine klassische klinische Diagnose auf Basis motorischer Symptome noch nicht möglich ist. „Wir haben kürzlich im Rahmen einer internationalen Expertengruppe einen neuen Risiko-Score für die Wahrscheinlichkeit definiert, eine Parkinson-Krankheit zu entwickeln“, so Prof. Poewe. „Dieser enthält unter anderem Kriterien wie Geruchssinnstörung, Stuhlverstopfung oder Rauchen und Koffeinkonsum.“

EU-gefördertes Projekt prüft Parkinson-Impfung

Eine der derzeit erforschten therapeutischen Strategien bei Parkinson zielt darauf ab, die pathologische Verklumpung von alpha-Synuclein und den Weitertransport des krankhaft veränderten Proteins von Zelle zu Zelle zu blockieren. Ein Ansatz, der unter anderem vom im Wien ansässigen Biotech-Unternehmen Affiris entwickelt wurde, beruht auf einer Immunisierungsstrategie. Prof. Poewe: „Ein Impfstoffkandidat wird derzeit im Rahmen des EU-geförderten Projekts SYMPATH an zwei Zentren in Wien und Innsbruck klinisch geprüft.“

Demenz: Kontrolle der Risikofaktoren zögert Erkrankungszeitpunkt hinaus

„Demenzerkrankungen stellen eine der großen Herausforderungen für die moderne Neurologie dar“, sagt ÖGN-Präsident Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt (1. stv. Klinikvorstand, Universitätsklinik für Neurologie, Graz). „Waren 2010 noch knapp 36 Millionen Menschen weltweit von einer Form einer dementiellen Erkrankung betroffen, werden es WHO-Prognosen zufolge 2030 bereits 66 Millionen und 2050 125 Millionen sein, was einem Anstieg von 85 bzw. 225 Prozent entspricht.“

Am stärksten ist der erwartete Anstieg der Erkrankungsfälle in den Schwellen- und Entwicklungsländern, in Europa soll die Wachstumskurve mit einem Anstieg von 40 bzw. 87 Prozent flacher ausfallen. Auch kürzlich im New England Journal of Medicine publizierte Daten geben Anlass zur Vermutung, dass die Prävalenz-Entwicklung bei Demenzerkrankungen in einkommensstarken Ländern günstiger ausfallen dürfte als in einkommensschwachen. „Wir kennen noch nicht die genauen Ursachen für diesen Trend. Faktoren, die dazu beitragen dürften, sind wohl ein besseres Bildungsniveau, ein höherer sozio-ökonomischer Status sowie eine bessere Kontrolle und Behandlung von vaskulären Risikofaktoren wie hohem Blutdruck, ungünstigen Cholesterinwerten oder Diabetes“, so der ÖGN-Präsident.

Multimodaler Ansatz erlaubt Verbesserungen der kognitiven Funktion bei Personen mit hohem Demenzrisiko

Auch die Ergebnisse der finnischen FINGER-Studie weisen in diese Richtung: Eine multimodale Intervention, bestehend aus Ernährungsempfehlungen, regelmäßiger Bewegung, kognitivem Training und einer engmaschigen Kontrolle von vaskulären Risikofaktoren, erwies sich in dieser Untersuchung als effektiv, um die kognitive Funktion von Menschen mit einem Demenzrisiko zu erhalten oder zu verbessern. „Schon geringe Verzögerungen des Demenzbeginns haben eine immense Bedeutung, weil dadurch nicht nur ein Plus an Lebensqualität und in Selbständigkeit verbrachten Lebensjahren erreicht wird, sondern auch massive Auswirkungen auf die gesellschaftliche Krankheitslast entstehen“, betont Prof. Schmidt. „Eine von der US-amerikanischen Alzheimer’s Association vorgestellte Berechnung zeigt, dass bei einer Verzögerung des Krankheitsbeginns um fünf Jahre die Prävalenz von Demenz innerhalb von 15 Jahren fast halbiert werden kann.“

Weltweit gilt die Aufmerksamkeit zahlreicher Forschergruppen der Entwicklung ursächlicher Behandlungsansätze gegen Demenz. Denn bisherige medikamentöse Therapieoptionen können zwar durch die Krankheit hervorgerufene Funktionsstörungen ausgleichen, nicht aber in den Krankheitsverlauf eingreifen oder ihn gar stoppen. „Eine Strategie besteht darin, prodromale Alzheimerstadien, also Vorläuferstadien der Erkrankung, zu identifizieren und definieren, um möglichst früh mit einer möglichen Behandlung beginnen zu können“, so Prof. Schmidt. „Angesichts des zunehmenden Wissens über die Bedeutung von pathologischem Beta-Amyloid und Tau-Protein in der Entstehung und dem Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit setzen aktuelle therapeutische Strategien an diesen Targets an.“ Das Tau-Protein ist bei Menschen mit einer Alzheimer-Erkrankung verändert und für die Neurodegeneration verantwortlich.

Die weltweit erste Tau-Impfstudie bei Alzheimerpatientinnen und -patienten wurde in Österreich durchgeführt und kürzlich abgeschlossen. „Die Ergebnisse dieser ersten Phase-1-Impfstudie zeigten ein sehr gutes Sicherheitsprofil und eine starke Immunantwort auf den Impfstoff“, berichtet der ÖGN-Präsident. „Auf Grundlage dieser Erfahrungen wird der Impfstoff nun in einer Phase-2-Studie geprüft, die ich von Österreich aus medizinisch koordiniere und die bis 2019 Ergebnisse liefern soll.“

Viele Neuerungen bei Multipler Sklerose

„Zu den entscheidenden Fortschritten, die wir aktuell bei der Multiplen Sklerose erleben, gehört die ständige Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten“, sagt Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, Vorstand der Grazer Universitätsklinik für Neurologie und Vizepräsident der European Academy of Neurology. „In den vergangenen Jahren wurden eine Reihe neuer Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen eingeführt und bei bereits verfügbaren Medikamenten gab es Verbesserungen durch andere Zubereitungsformen, die länger wirksam sind und damit eine seltenere Verabreichung möglich machen. Damit sind wir einer maßgeschneiderten, individualisierten Behandlung einige Schritte nähergekommen.“

Zuletzt gelang auch der Nachweis der Wirksamkeit eines neuen Therapieansatzes mit dem monoklonalen Anti-CD20-Antikörper Ocrelizumab. „Die neue Substanz hat eine den Interferonen überlegene Wirkung“, berichtet Prof. Fazekas. „Darüber hinaus hat sie sich in Studien nicht nur bei schubförmiger MS als wirksam erwiesen, sondern auch bei der primär progredienten Verlaufsform dieser Erkrankung.“ Bei dieser Verlaufsform kommt es von Beginn an zu einer kontinuierlichen Verschlechterung, meist in Form zunehmender Gehstörung, ohne dass Schübe im eigentlichen Sinn auftreten.

Prof. Fazekas: „Mit dem neuen monoklonalen Antikörper wird vermutlich das erste Mal auch eine Therapie für diese bisher nicht adäquat therapierbare Verlaufsform der MS zur Verfügung stehen, die etwa fünf bis zehn Prozent der Menschen mit MS betrifft. Mit der Zulassung der neuen Therapie ist bereits im nächsten Jahr zu rechnen. Allerdings wird der Einsatz bei progredienter MS auch nur in einem frühen und sehr aktiven Stadium sinnvoll sein. Bei bereits fortgeschrittenen Fällen, also vor allem bei Menschen, die nur mehr sehr eingeschränkt gehfähig sind, ist weiterhin keine Hilfe zu erwarten.“

Individualisierung der Therapie zunehmend möglich

Die immer breitere Palette an Therapieoptionen, die zur Verfügung stehen, bedeute die Möglichkeit einer immer besseren Anpassung der MS-Behandlung an die individuellen Bedürfnisse und Vorstellungen der Patientinnen und Patienten, so Prof. Fazekas: „Die individuelle Prognose richtig einzuschätzen und die Wirkung und unerwünschten Wirkungen einer Substanz im konkreten Fall vorherzusagen ist eine oft schwierige Aufgabe. Allerdings gibt es immer mehr Evidenz, die uns dabei unterstützt. Einen wichtigen Beitrag leistet hier auch das MS-Therapieregister der ÖGN.“

Bei der Auswahl des individuell günstigsten Medikamentes ist es auch wichtig zu wissen, wie man dessen Wirksamkeit für die oder den Einzelnen am besten bestimmen kann, beziehungsweise ab wann und in welcher Form auf ein anderes Medikament umgestellt werden soll. Prof. Fazekas: „Die wiederholte klinische Untersuchung und eine gezielte bildgebende Kontrolluntersuchung können hier wertvolle Hinweise geben. Regelmäßige jährliche MRT-Untersuchung von Gehirn und Rückenmark sind außer bei speziellen Fragestellungen oder Therapien allerdings nicht notwendig.“

MS-Forschung: Enge Zusammenarbeit zwischen den Medizinuniversitäten

Ein weiteres Plus an wissenschaftlichen Erkenntnissen ist durch die immer engere Zusammenarbeit zwischen den universitären Zentren in Österreich zu erwarten. „So wurde durch Forschungsgelder vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung der Aufbau einer gemeinsamen Plattform für Neuroimaging in Graz, Innsbruck und Wien und der Aufbau einer einheitlicher Datensammlung für MS-Forschung unterstützt“, berichtet Prof. Fazekas. „Die Österreichische MS-Forschungsgesellschaft fördert großzügig ein universitätsübergreifendes Forschungsprojekt an diesen drei Standorten, um den Langzeitverlauf von Menschen mit MS in Bezug auf Klinik, Bildgebung und mögliche Biomarker zu untersuchen.“

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