TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 18. Jänner 2018 von Christian Jentsch „An Berlin führt kein Weg vorbei“

Innsbruck (OTS) – Kanzler Kurz hatte gestern in Berlin seinen Auftritt. Wobei eines klar ist: Deutschland ist nach wie vor Europas Zugpferd und Merkel der Anker der westlichen Welt. Für Österreich müssen beste Beziehungen zu Deutschland Priorität haben. Nach seinem Antrittsbesuch beim als Hoffnungsträger Europas titulierten französischen Präsidenten Emmanuel Macron machte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz gestern der deutschen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) seine Aufwartung. Kurz, von den einen als junger Wunderwuzzi der Konservativen gefeiert und von den anderen vor allem wegen der Koalition seiner ÖVP mit der FPÖ kritisiert, hat ein gespaltenes Verhältnis zur deutschen Kanzlerin, die schon seit November 2005 als Regierungschefin amtiert und somit die dienstälteste Kanzlerin eines EU-Landes ist. Insbesondere in der Flüchtlingspolitik waren beide Gegenspieler, Kurz inszenierte sich als Antithese zu Merkels „Wir schaffen das“ und setzte etwa vehement auf die Abriegelung der Balkanroute für Flüchtlinge. Inzwischen hat sich das Verhältnis zwischen beiden deutlich entspannt, zumindest in der Öffentlichkeit – wie gestern in Berlin – demonstriert man lieber Ein- als Zwietracht. Auch wenn man sich in der Flüchtlingspolitik längst noch nicht im Gleichschritt bewegt. So bezeichnet Kurz die von der EU beschlossene Flüchtlingsumverteilung innerhalb der Union nach festen Quoten als „Irrweg“ und unterstützt dabei die Argumentation der osteuropäischen Visegrad-Staaten, während Merkel die fehlende Solidarität der EU-Mitgliedsländer in dieser Frage kritisiert. Schließlich ist Deutschland der Zahlmeister der Union. Auch in Fragen der EU sind beide Regierungschefs nicht überall auf Linie. Kurz fordert jedenfalls eine EU, die sich bei ihrer Vertiefung auf Kernthemen wie die gemeinsame Verteidigung beschränkt, sich sonst aber zurücknimmt. Auch beim EU-Haushalt wehrt er sich gegen eine stärkere Belastung der Nettozahler. Mit der Vision des französischen Präsidenten Macron, der Deutschland ins Boot holen will, hat das wenig zu tun. Bei allen Unterschieden zwischen Wien und Berlin ist freilich eines entscheidend: Deutschland war in den letzten Jahren das Zugpferd Europas und wird das zumindest vorerst auch noch bleiben. Die deutsche Wirtschaft brummt und politisch ist Kanzlerin Merkel in Zeiten von Brexit und einem US-Präsidenten Trump, der die westliche Weltordnung in Frage stellt, ein Anker der demokratischen westlichen Welt. Wer bereits die Totenglocken für Merkel läutet, könnte sich zu früh gefreut haben. Österreich braucht Deutschland, es sonnt sich im Windschatten seines Erfolgs. Wer die guten Beziehungen zu Berlin in Frage stellt, schneidet sich ins eigene Fleisch. Ein Pakt mit den Neinsagern in Europa bringt wenig Perspektiven.

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