Übertherapie in der Intensivmedizin schafft „chronisch kritisch Kranke“

Wien/Graz/St. Veit an der Glan/Klagenfurt (pts028/23.11.2017/13:10) – Fast 40 Prozent der Patienten werden noch kurz vor ihrem Tod übertherapiert, bei nahezu jedem zweiten werden Diagnoseverfahren durchgeführt, die keine Vorteile mehr bringen. „Mit den heutigen Therapiemethoden können wir Patienten mit sehr schweren Erkrankungen am Leben erhalten, die danach weiterhin lebensbedrohlich krank sind. In vielen Fällen wird dadurch letztlich das Sterben verlängert. Wir bezeichnen dieses Problemfeld als ‚chronisch kritische Erkrankung‘ (chronic critical illness, CCI)“, berichtete Univ.-Prof. Dr. Sonja Fruhwald (Stv. Vorsitzende der Plattform Ethik in Anästhesie und Intensivmedizin der ÖGARI; Medizinische Universität Graz) auf der Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI; 23.-25.11. in Wien). „48 bis 68 Prozent der CCI-Patienten sterben innerhalb eines Jahres: Eine Rate, die sich trotz der verbesserten medizinischen Versorgung in den letzten 20 Jahren kaum verändert hat.“ Betroffen sind insbesondere multimorbide Menschen, die nach einem Versagen der Atmung künstlich beatmet werden mussten, Patienten nach einer Sepsis und/oder großen Operationen.

Bewusstsein schaffen: Neun von zehn haben falsche Erwartungen

„Es ist sehr wichtig, dass wir mehr Bewusstsein dafür schaffen, wie der Zustand der CCI nach einer überlebten schweren Erkrankung tatsächlich ist“, so Prof. Fruhwald. Die zentrale Frage sei hier nicht immer „Überleben oder Sterben“, sondern dass sich neben der Lebensdauer die Frage nach der Lebensqualität stellt. Studien haben gezeigt, dass mehr als 90 Prozent der Patienten, die auf eine CCI zusteuern, und ihre Angehörigen völlig falsche Erwartungen haben, weil sie nicht über die Einschränkungen funktionaler und kognitiver Art Bescheid wissen, die auf sie zukommen. Nur zwölf Prozent der Betroffenen, die nach einem Jahr noch leben, sind imstande, sich selbst zu versorgen und eigenständig zu leben.

Verlängerung der Sterbephase

„Die schwierige Frage hinter solchen Überlegungen ist immer: Bringt die Behandlung eine Heilung oder eine deutliche Verbesserung des Zustandes des Patienten? Oder bringt die Behandlung nur eine Verlängerung der Sterbephase?“, so Prof. Fruhwald. „In diesem Fall ist es ethisch geboten aus dem Bündel an verfügbaren Maßnahmen jene auszuwählen, die die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten in der verbleibenden Lebenszeit verbessern.“

Prim. Zink: Palliativmedizin heißt nicht keine, sondern eine andere Medizin

„Die Palliativmedizin beginnt da, wo wir feststellen müssen, dass eine Heilung der Erkrankung nicht mehr möglich ist. Unser Therapieziel ist dann, nicht mehr mit allen Mitteln Lebenszeit zu verlängern, sondern wir bemühen uns, in der verbleibenden Lebenszeit für eine bestmögliche Lebensqualität zu sorgen“, erklärte Prim. Priv.-Doz. Dr. Michael Zink (Vorsitzender ARGE Palliativmedizin in der ÖGARI; Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, St. Veit/Glan und Krankenhaus der Elisabethinen, Klagenfurt). Auch wenn in einem palliativen Behandlungsregime versucht wird, Therapien mit unangenehmen Begleiterscheinungen zu vermeiden, bedeute das nicht, dass man sich entschließt, nichts zu tun, stellt Prim. Zink ein verbreitetes Vorurteil richtig: „Sondern es geht darum, etwas anderes zu tun. In der Regel bedeutet das nicht weniger, sondern, ganz im Gegenteil, mehr Aufwand zu betreiben. Nur eben nicht mehr mit dem Ziel, das Leiden zu heilen, sondern es den Betroffenen, so gut das geht, erträglich zu machen.“

In solchen Fällen ist Aufklärung und eine besonders intensive Kommunikation mit den Patienten besonders wichtig. Prim. Zink: „Es muss ganz klar besprochen werden, welche Komplikationen auftreten können und wie damit umgegangen werden soll.“

Initiative der ARGE Palliativmedizin für strukturierte Entscheidungshilfe

In Österreich müsse niemand Angst haben, dass die Entscheidung, von einer Maximaltherapie abzusehen, leichtfertig gefällt wird. In der Regel können die therapieführenden Abteilungen sehr genau abschätzen, wann das Repertoire an heilenden Ansätzen erschöpft ist. „Doch das ist keine Entscheidung eines oder einer Einzelnen“, so Prim. Zink. „Solche Therapiezieländerungen werden immer interdisziplinär, etwa in einem Tumorboard, von Palliativmedizinern, Onkologen und Schmerztherapeuten gemeinsam getroffen und mit den Patienten und deren Angehörigen intensiv besprochen.“

Welche Vorgehensweise dabei letztlich gewählt und wo welche Grenzen gezogen werden, ist immer vom Einzelfall abhängig und erfordert einen sehr individuellen Zugang. Um die Identifikation im Sinne einer strukturierten Analyse und die Beurteilung des Zustandes der Patienten zu erleichtern, hat die ARGE Palliativmedizin einen gut validierten, englischen Fragebogen ins Deutsche übersetzt. Diese zusätzliche Entscheidungshilfe wird in einem Pilotversuch zunächst in zwei Krankenhäusern – darunter auch das der Barmherzigen Brüder in St. Veit an der Glan – erprobt. Prim. Zink: „Ich bin optimistisch, dass diese Initiative das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Palliativmedizin weiter erhöhen wird und freue mich darauf, bei nächster Gelegenheit die Ergebnisse unserer begleitenden Untersuchung präsentieren zu können.“

Quellen: Desarmenien M, Blanchard-Courtois AL, Ricou B. The chronic critical illness: a new disease in intensive care. Swiss Med Wkly 2016; 146:w14336; Aitken LM, Marshall AP. Monitoring and optimising outcomes of survivors of critical illness. Intensive Crit Care Nurs 2015; 31(1):1-9; Nelson JE, Cox CE, Hope AA, Carson SS. Chronic critical illness. Am J Respir Crit Care Med 2010; 182(4):446-54; Douglas SL, Daly BJ. Caregivers of long-term ventilator patients: physical and psychological outcomes. Chest 2003; 123: 1073-1081

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